Lexikon
Inkunabel / Wiegendruck

Mit Johannes Gutenbergs bahnbrechender Erfindung des Buchdrucks um 1450 beginnt ein neues Zeitalter nicht nur der schriftlichen Form von überliefertem Wissen, sondern des Wissens und Fortschritts überhaupt. Der Druck mit beweglichen Lettern gehört zu den wenigen Erfindungen, die die Entwicklung der Menschheit innerhalb weniger Jahrzehnte auf eine neue Stufe katapultiert haben.

Die ältesten Erzeugnisse des Buchdrucks, von Gutenbergs berühmter 42-zeiliger Bibel 1455 über Hartmann Schedels großartiger Weltchronik 1493 bis zu den Drucken aus dem Jahr 1500, werden seit dem 19. Jahrhundert mit dem aus dem Lateinischen stammenden Wort Inkunabel (in cunabula = in den Windeln liegend) bezeichnet, oder auch Wiegen- und Frühdrucke.

Eine Inkunabel dokumentiert auf schönste handwerkliche und graphische Weise das heute bekannte Buch in seinem ersten Entwicklungsstadium. In der Gestaltung noch ganz an die im 15. Jahrhundert hochentwickelte Handschriftenproduktion angelehnt, haben die Druckwerke der frühen Phase sowohl drucktechnisch als auch typographisch noch sehr experimentellen Charakter. Die heute typischen Merkmale mußten erst erfunden und entwickelt werden, so Titelblatt, Seitenzahlen, Impressum und Typographie. Höchst bemerkenswert ist, daß diese ersten Versuche bereits Meisterwerke der Schwarzen Kunst darstellen: Hinsichtlich Papier, Typographie, Gleichmäßigkeit und Sauberkeit des Drucks, Satz und Layout, Verbindung von Schrift und Bild, Lesbarkeit, Haptik, Bindung der Lagen, bis hin zum Einband, der eine eigene Kunstform bildet, sind die meisten Inkunabeln Handwerk auf allerhöchstem Niveau. Die besten unter Ihnen wurden Vor- und Leitbild für Jahrhunderte, bis hin zu den bibliophilen Pressendrucken des 20. Jahrhunderts.

Waren die allerersten Werke noch theologischer oder religiös-erbaulicher Natur, so erweitert sich innerhalb eines Jahrzehnts das thematische Spektrum auf die meisten Wissens- und Lebensbereiche, allen voran die Literatur der Antike, deren Wiederentdeckung durch den Buchdruck geradezu befeuert wurde. Nicht minder populär wurden Kräuter- und Medizinbücher, die großen juristischen Lehrwerke, Chroniken und Enzyklopädien, Literatur von Wolfram von Eschenbach bis Boccaccio, Reiseberichte und Geographie, Satiren und Kalender sowie allerlei Volkstümliches und Landessprachliches. Wie stark das alte und neue Wissen sich europaweit ausgebreitet hat, zeigt allein die Menge der überlieferten Bücher: Die Zahl der weltweit erhaltenen Inkunabeln wird auf rund 27.500 Werke mit einer Gesamtzahl von 550.000 Exemplaren geschätzt.

Inkunabeln gehören auf internationalen Buchauktionen zu den begehrtesten Sammelobjekten und zählen in den Bibliotheken zu den Kostbarkeiten ihrer jeweiligen Sammlungen. Das gilt insbesondere für die Erstausgaben (Editio princeps) großer klassischer Autoren wie Aristoteles, Cicero oder Ptolemäus. Aber auch guterhaltene Exemplare berühmter Werke, die mit zahlreichen Holzschnitten illustriert sind, so Schedels Weltchronik, die Koberger-Bibel und der Gart der Gesundheit, sind bei Sammlern sehr gesucht und erzielen in unseren Versteigerungen hohe Preise.